zu Besuch in Valognes 2019

Friedliches Miteinander sichert das Überleben

Delegation aus Stolberg reist nach Valognes. Partnerstadt feiert 75. Jahrestag der Befreiung. Kranzniederlegung.

Stolberg/Valognes „Nur wenn wir es schaffen, friedlich miteinander zu leben, werden wir gemeinsam überleben können“, sagt Karina Wahlen bei den Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Befreiung der Stolberger Partnerstadt Valognes am 20. Juni 1944, nachdem sie ein Gebinde am Ehrenmal niedergelegt hatte. Zwischen den einstigen Erzfeinden Deutschland und Frankreich sei dies gelungen, so die stellvertretende Bürgermeisterin an der Spitze einer starken Delegation aus der Kupferstadt, die der Einladung aus Valognes gefolgt war.

Bürgermeister Jacques Coquelin warnte in seiner Ansprache vor Extremismus und Faschismus auch in heutiger Zeit, und appellierte eindringlich die demokratischen Werte und die europäische Freundschaft zu leben. Ebenso Kränze legten neben Coquelin als Vertreter des seit 29 Jahren bestehenden Partnerschaftskomitee Valognes-Stolberg, Jean-Marie Mutte und Burghart Klein, Kelly Webb, stellvertretende Bürgermeisterin von Valognes Partnerstadt Wimborne Minster, sowie der ehemalige Landwirtschaftsminister Stéphane Travert, Jean-Louis Valentin, Präsident der Gemeinschaft der Halbinsel Contentin bei der feierlichen Gedenkstunde nieder.

Die Einladung von Valognes, der auch die Combo der Crackfield Stompers des Ritzerfeld-Gymnasiums gefolgt sind, ist verbunden mit einem informativen und geselligen Rahmenprogramm, das den Autausch zwischen den Menschen fördert. Einen ausführlichen Bericht lesen Sie in einer unserer nächsten Ausgaben. (-jül-)

Gedenken – und die Freundschaft gefeiert

Stolberger Delegation besucht Valognes zum 75. Jahrestag der Befreiung. 29. Jahr der Städtepartnerschaft ein Beweis der Versöhung.

Von Jürgen Lange

Stolberg Als im Morgengrauen des 4. Juni die Alliierten an den Stränden der Normandie landen, stehen Valognes schwere Stunden bevor. Die Befreiung vom NS-Regime geht einher mit schweren amerikanischen Bombardements vom 6. bis 8. Juni. 75 Prozent des „Versailles der Normandie“ werden zerstört – darunter die Kirche Notre Dame aus dem 14. Jahrhundert mit der einzigen gotische Kuppel Frankreichs. Rund 300 Menschen starben – Einheimische, Flüchtlinge und Soldaten. Erst am 20. Juni 1944 zieht der Frieden ein in der Partnerstadt von Stolberg, das verbunden mit schweren Kämpfen am 20. September 1944 als erste deutsche Stadt durch amerikanische Truppen befreit wurde.

Es ist der 75. Jahrestag seiner Befreiung, den Valognes am Wochenende feierte und nicht nur die Vertreter seiner Partnerstädte einlud. Neben der von der stellvertretenden Bürgermeisterin Kelly Webb angeführten Delegation aus Wimborne Minster im englischen Dorset und der gut 50-köpfigen Abordnung aus der Kupferstadt mit der stellvertretenden Bürgermeisterin Karina Wahlen sowie den Ratsmitgliedern Paul Kirch, Fritz Thiermann und Michael Thomas sowie Walter Wahlen und Stephan Artz vom städtischen Hauptamt an der Spitze ist eine amerikanische Familie aus dem Raum Boston angereist. Im Mittelpunkt steht Helen O’Neil, die Schwester von Kenneth MacDonald. Der kaum 21 Jahre junge Soldat war mit der 79. US-Division auf Utah Beach gelandet und wurde am 19. Juni im nahen Yvetot-Bocage durch Maschinengewehrfeuer schwer verwundet. Er starb am Tag der Befreiung im Lazarett in Valognes.

Aus der Vergangenheit lernen

An diese Opfer wurde beispielhaft bei den Gedenkveranstaltungen am Rathaus und auf dem gegenüberliegenden Jacques-Lemarinel-Platz mit seinem ausdrucksstarken Ehrenmal gedacht.

Jacques Lemarinel war mit 17 Jahren der Jüngste aus einer Gruppe von Freunden aus Valognes, die 1943 zu einer waghalsigen Flucht über die Kanalinseln in Richtung England aufbrachen, um sich dort der Freien Französischen Division anzuschließen. Er kämpfte in Nordafrika und Italien, wo er auf den Tag genau vier Jahre nach seiner Abreise am 18. Juli 1944 beim Angriff auf Fontevetriana getötet wurde. Er steht beispielhaft für eine Reihe von Söhnen und Töchtern Valognes, die den Zweiten Weltkrieg nicht überlebten.

„Valognes musste das Andenken an einen seiner Söhne ehren, indem es diesem Platz seinen Namen gab, auf dem das Denkmal für die Toten errichtet wurde“, sagt Bürgermeister Jacques Coquelin. Am 11. November 1984 wurde in einer bewegenden Zeremonie in Anwesenheit seiner drei Kameraden eine Gedenktafel erhüllt. Jetzt zu den Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Befreiung präsentiert sich der Jacques-Lemarinel-Platzkomplett neu gestaltet – „im Geiste der Besinnung“, sagt Coquelin stolz.

Mit feierlichem Stolz und ganz im Sinne eines vereinten und friedlichen Europa zelebrieren die franzöischen Partner die Gedenkfeier am Ehrenmal.

Eine Gruppe in lokaler Tracht zieht der Fahnenabordnung der Veteranen voran, vorbei an der Aufstellung der Feuerwehr. Bürgermeister Jacques Coquelin und Stéphane Travert aus dem nahen Carentan, Deputierter der Nationalversammlung und bis Oktober 2018 Landwirtschaftsminister in Paris, durchschneiden das im nationalen blau-weiß-rot gehaltene Band zur Einweihung des Platzes bevor die eigentliche Gedenkfeier mit militärischen Kommandos und musikalischem Salut beginnt.

Aber sie stehen Seite an Seite, die Feinde von einst und die Freunde von heute. Karina Wahlen und Kelly Webb direkt in der ersten Reihe neben Coquelin und den weiteren Würdenträgern aus der Stadt und der Region. In kurzen Ansprachen wird den Schrecken des Krieges gedacht und zugleich die Freundschaft von heute betont, bevor die Gestecke und Kränze niedergelegt werden. Zuerst von den Veteranen, dann vom Partnerschaftskomitee Wimborne Minster. Darauf folgen Burghart Klein und Jean-Marie Mutte vom Komitee Stolberg-Valognes, die sich auf dem Rückweg vom Ehrenmal freundschaftlich umarmen.

Es folgt Jean-Louis Valentin, als Präsident der Gemeinschaft auf Cotentin, Kelly Webb und Karina Wahlen sowie zum Abschluss Jacques Coquelin als Vertreter der Kommunen. Die Nationalhymnen werden gespielt – zuerst die deutsche, dann die amerikanische, britische und französische. Dabei darf auch die Combo der Crackfield Stompers des Ritzefeld-Gymnasiums gemeinsam mit den Absolventen der Musikschule Valognes die Hymnen anstimmen.

„An der Wahlurne offenbart“

Es schließt sich ein Empfang auf der Freitreppe des Rathauses an, bei dem Coquelin nochmals das Wort ergreift und auch der jungen Deutschen gedenkt, die den Krieg nicht überlebt haben, als Opfer einer Grippe von Fanatikern und einer Ideologie, die auf Hass und Obskurtantismus basiert“. Es seien keine Nationen gewesen, die während des Zweiten Weltkriegs aufeinander getroffen sind, es sind keine Völker; es sind zwei Ideologien: Die eine basiert auf Demokratie und Freiheit, die andere auf Totalitarismus und Antisemitismus, so Coquelin, der daran erinnert, dass „der Nationalsozialismus der Welt durch die Wahlurne offenbart wurde“. Er mahnte: „Wenn wir solche Lehren wieder sehen würden, hätte ich das Gefühl, dass alle diese Opfer, die wir ehren, tatsächlich umsonst gestorben wären“:

„Die Toten sind Mahnungen für die Lebenden“; sagt auch Karina Wahlen in ihrer auf Deutsch und Französisch gehaltenen Ansprache. „Auch heute nach 75 Jahren ist es unverzichtbar und wichtig, sich mit den vergangenen Ereignissen zu befassen. „Vor allem ist die Jugend mit dieser Thematik zu befassen“; sagte Stolbergs stellvertretende Bürgermeisterin, erinnerte an die Taten der Hitler-Diktatur und an die Anstrengungen und Opfer, die die freien Welt auf sich genommen hat, um Europa von dieser Gewaltherrschaft zu befreien.“ Diesen Opfern verdanke Deutschland heute seine Demokratie, deren Existenz nicht in Frage gestellt werde.

Aber auch heute noch werde auf der Welt die Würde des Menschen missachtet und grundlegende Menschenrechte, die ihren Ursprung in der französischen Revolution haben, mit Füßen getreten, mahnte Wahlen: „Nur wenn wir es gemeinsam schaffen, friedlich miteinander zu leben, werden wir gemeinsam überleben können.“ Die Völker müssten sich deshalb versöhnen, ihren alten Zwist begraben und ihren Hass ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen, mahnte Karina Wahlen: „Zwischen den einstigen Erzfeinden Frankreich und Deutschland ist dies gelungen. Als Beweis dafür stehen wir heute als Freunde Hand in Hand und gedenken der furchtbaren Auswirkungen, die der Zweite Weltkrieg über uns alle gebracht hat.“

Kontakte intensiv gepflegt

Aber die Gedenkfeierlichkeiten sind nicht der einzige Beweis für die gelebte Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen Valognes und Stolberg. Das ist schon bei der Ankunft des Reisebusses am Donnerstagabend zu beobachten. Auf dem großen Place du Château warten die französischen Freunde ungeduldig auf die Besucher, die mit großem Hallo und Umarmungen in Empfang genommen werden. Die meisten kennen einander länger, wer sich noch nicht kennt, wird sich während der knapp vier Tage schnell kennen und schätzen lernen. Gemeinsam wird in den Familien gegessen oder im Hotel de l‘Agriculture, wo die offiziellen Vertreter von Komitee und Kommunen sich treffen. Andere erkunden die malerisch wieder aufgebaute Stadt mit ihren alten Palais und Kalksteingebäuden, Gärten und Plätzen.

Beim Treffen am nächsten Morgen gesellen sich auch die Stolberger zur Gruppe, die individuell angereist sind. Es ist eine bunt gemischte Truppe aus Franzosen und Deutschen, die gemeinsam die Ausstellung der Maison du Biscuit in Sortosville-en-Beaumont, ein Süßwarenproduzent, besichtigt, in der Bucht von Sciotot zu Mittag isst, wobei trotz warmer Temperaturen die Zeit für ein Bad im blauen Meer fehlt, und sich in die Geheimnisse der Calvados- und Cidrerie-Distillerie von Théo Capelle in Sotteville einweihen lässt.

Für den Abend hat das Komitee aus Valognes zum gemeinsamen Essen in den Saal du Château eingeladen. Gemischt nehmen an den Tischen in dieser Mehrzweckhalle rund 150 Personen Platz. Während traditionellen Vorspeisen angerichtet sind und Lammkeulen über offenem Feuer vor dem Saal gegrillt werden, bleibt ausreichend Zeit zum Austausch reichhaltiger Geschenkpakete und einiger Ansprachen.

Es drängt sich das Bild vor Augen, das Francois Mitterrand und Helmut Kohl 1984 Hände haltend auf einem Soldatenfriedhof in Verdun geprägt haben: die Verständigung über Gräben und Gräber hinweg. Burghart Klein und Jean-Marie Mutte erinnern an den Freundschaftsvertrag, den Konrad Adenauer und Charles de Gaulle 1963 im Elysee-Vertrag formulierten, der im Januar in Aachen von Emmanuel Macron und Angela Merkel bekräftigt wurde.

„Freundschaft ist wichtiger und besser als Krieg und Diktatur“, betont Klein als Stolberger Komitee-Vize. In 29 Jahren der Partnerschaft seien aus ersten netten Begegnungen intensive Freundschaften enstanden. „Der Freundschaftsvertrag ist nur Papier, wenn nicht die Komitees und Verwaltungen daran arbeiten, dass er mit Leben gefüllt wird“.

Erstmals auch auf Deutsch wandte sich Jean Marie Mutte an die Gäste, spricht von der „tiefen Freundschaft, die uns seit vielen Jahren verbindet.“ Der Elysee-Vertrag sei die Basis für das Vertrauen und die Freundschaft der beiden Nationen. Besonders wichtig dabei sei, dass „die Bürger einander näher kommen“ und in besonderem Maße die Jugend. Seitdem wurden viele Partnerschaften geschlossen. „Heute begehen wir mit Feierlichkeit und Geselligkeit diese Bezieung, die es uns ermöglicht hat, starke und dauerhafte Freundschaften aufzubauen“, sagte Mutte, und es ist kein Zufall dass die Europa-Hymne laut mitgesungen wird – auf Französisch und auf Deutsch. Dazu greift die Combio der Crackfield Stompers zu den Instrumenten, die mit weiteren Kostproben ihres Könnens die Teilnehmer begeistert. Noch lange sitzt man zusammen, um den Worten gemeinsame Taten folgen zu lassen.

Ausgelassene Parade

Das gilt auch für den Nachmittag nach den offiziellen Feierlichkeiten, als eine bunte Parade mit Musikern der Musikschule von Valognes und der Gruppe Reuz-Bonbons durch die Stadt zieht – und in rosafarbenen Kostümen von Herzen den Gainsborough-Song und weitere Ohrwürmer wie „Les Bêtises“ von Sabine Paturel in mitreißenden Arrangements an jeder Ecke zum Besten geben.

Die Parade mündet im Konzert der Musikschule und weiterer Gruppen im Stadtgarten, wo am Abend auch die selbstbewusste Ritzefeld-Combo einen begeisternden Auftriff feiern kann. Konzerte bestimmen neben einem Gottesdienst den Sonntagmorgen bevor die Stadt Valognes alle Partnerschaftskomitees zum gemeinsamen Mittagessen einlädt. Danach fällt der Abschied von den Freunden aus Frankreich nach bewegenden Tagen schwer.

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